Die depressive Persönlichkeit

30.05.2016

In meinen Ausführungen zur Depression beziehe ich mich weitgehend auf Riemann, die Grundformen der Angst. Dieses Grundlagenbuch erschien 1961 und wird heute noch in weitgehend unveränderter Neuauflage verkauft. Eine Depression ist ein Versuch Ängste zu bewältigen.

Allgemeines zur Depression

In unserem Leben gibt es die Anforderung der Individuation, d.h. die Notwendigkeit uns von anderen zu unterscheiden. Einhergehend damit ist aber auch die Angst Geborgenheit zu verlieren. Vermeidet ein Mensch die Individuation, bekommt das Du, der Partner, einen übergroßen Stellenwert. Liebendes sich Hingeben braucht einen Partner.

Depressive Menschen sind auf einen Partner angewiesen, einerseits um ihre Liebesfähigkeit und Liebesbereitschaft zum Ausdruck zu bringen und andererseits durch ihr Bedürfnis geliebt zu werden. Das zentrale Problem Depressiver ist die Abhängigkeit. Dieses dringende Brauchen des Partners führt dazu, dass der Depressive die Distanz zwischen Ich und Du möglichst aufheben möchte. Distanz führt bei ihm zu Verlassenheitsängsten.

Abhängigkeit bedeutet für ihn Sicherheit. Es gibt zwei Möglichkeiten für ihn, entweder selbst kindlich-hilflos abhängig zu bleiben, oder den Partner von sich abhängig zu machen, z.B. indem er ihn zum Kinde macht. Bewusst ist ihm nur die Verlustangst, die die treibende Kraft ist, aber nicht die Angst vor der Individuation. Als Folge der Verlustangst idealisiert er die Menschen eher, entschuldigt ihre Schwächen und ihre dunklen Seiten.

Zweifel und Kritik werden unterdrückt, um Spannungen und Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Um der Harmonie willen bemüht er sich „gut“ zu sein und bemüht sich um altruistische Tugenden. (Bescheidenheit, Friedfertigkeit, Selbstlosigkeit, Mitgefühl etc.) Das kann zu einer Selbsttäuschung führen. Er kann sich moralisch über andere erheben, denn er meint etwas zu opfern, sein Ich, was er nicht besitzt. Der Preis dafür sind nicht gewagte und gelebte Wünsche.

Psychische und somatische Folgen

Die Folge ist eine passive Erwartungshaltung. Depressive verzichten, erwarten aber doch eine Belohnung. Sie können nicht fordern und nehmen. Dadurch sinkt ihr Selbstwertgefühl in einer Spirale nach unten. Sie können Wünsche nicht klar ausdrücken, darum geht bei ihnen häufig alles schief.

Körperlich drückt sich dies besonders in Störungen des Aufnahmetrakts (Schlund Rachenmandeln, Speiseröhre und Magen) aus, der ja für sich Nehmen, sich Einverleiben und Fordern steht. Fettsucht, Magersucht und andere Süchte können psychosomatischer Ausdruck einer Depression sein.

Die Schwierigkeit sich etwas anzueignen können auch zu Gedächtnisschwäche, Lernschwäche oder allgemeiner Müdigkeit und Teilnahmslosigkeit führen. Dies alles dient als Schutzfilter vor starken Reizen und verstärkt gleichzeitig die Depression. Dahinter liegt tiefe Resignation.

Liebe

Lieben wollen und Geliebt werden ist das Grundbedürfnis eines jeden Menschen, jedoch haben depressiven Menschen dieses Bedürfnis im Übermaß. Gesunde mit depressiven Tendenzen haben eine große Liebes- und Hingabefähigkeit, während bei einer stärkeren Depression die Verlustangst dominiert.

Dies führt zu starken Klammerungstendenzen an den Partner bis zur Identifikation mit ihm – das Leben wird nur noch durch den Partner gelebt. Gerade dies führt häufig zu einer Krise in der Partnerschaft. Sie können oft nicht alleine leben. Sie haben nach der Trennung eines Partners oder dessen Tot sofort wieder einen neuen Partner. In Paarbeziehungen ist auch die erpresserische Liebe zu finden, gekleidet in Überbesorgtheit, die Herrschsucht verbirgt, oder in Krankheit oder Selbstmordandrohungen.

Vorsicht jedoch bei zu schneller Beurteilung. Das gute Maß an Bindung oder Freiheit in einer Partnerschaft kann nicht allgemein Postuliert werden, Anlage, Lebensgeschichte, Sozialisation etc. spielen dabei eine Rolle. Aus diesem Grund müssen wir verschiedene Liebesformen respektieren.

Aggression

Jede Form des Nehmens und des Durchsetzens eigener Wünsche benötigt eine konstruktive Aggression. Auch diese Form der Aggression ist für Depressive ein großes Problem, da er voller Verlustangst ist und sich als Abhängig erlebt. Da die Aggression zwar da ist, aber nicht gelebt werden kann, braucht sie andere Ausdrucksformen.

Durch eine friedfertige Ideologie kann man die Aggression entschärfen und verharmlosen. Zum Ausgleich kann man sich moralisch überlegen fühlen ohne wahrzunehmen, dass dies auch eine Form der Aggression ist. Die Dulderrolle des Depressiven macht aus dem Anderen den Bösen, Schuldigen. Dies kann große Ausmaße annehmen z.B. durch Krankheit etc., den Partner in tiefste Schuldgefühle stürzen. Dies alles ist nicht bewusst.

Eine andere Form der unbewussten Aggression ist Jammern, Klagen und Lamentieren. Auch dadurch wird der Partner unbewusst in Schuldgefühle gestürzt.

Selbstmitleid bis hin zu Selbsthass richtet die Aggression, die nach außen keinen Ausdruck findet gegen sich selbst. Auch die Flucht in eine Krankheit kann Ausdruck der Aggression gegen sich sein.

Unterdrückte Aggression führt zu Antriebsschwäche bis zur Passivität und Indolenz (Unempfindlichkeit gegen physischen und psychischen Schmerz). Da ein gesundes Selbstwertgefühl eine ausbalancierte Aggression benötigt, ist hier die Ursache für das geringe Selbstwertgefühl zu suchen.
Kinder die brav, still sind, sich langweilen und keine Initiative zeigen, stehen oft am Beginn einer Depression, die beachtet werden muss.

Lebensgeschichtlicher Hintergrund

Förderlich für eine Depression ist eine Gefühlslage die zur Treue, Beständigkeit und zur liebenden Einfühlung neigt. Wie immer kann die Frage, was war zuerst, das Huhn oder das Ei, also die ererbte Anlage oder die frühe Unterdrückung aggressiver Impulse, nicht beantwortet werden.

Erlebt ein Kind die Eigenentwicklung mit Angst und Schuldgefühlen, statt mit Freude wird eine Depression gefördert. Dies kann sowohl auf Verwöhnen als auch auf Versagen der Mutter zurück zu führen sein.

Die „Gluckenmütter“, die häufig selbst depressive Strukturen haben, halten das Kind in hilfloser Abhängigkeit. Am besten sollte es immer ein Baby bleiben. So hat das Kind keine Möglichkeiten einen Eigenimpuls zu entwickeln, im Extremfall darf es nicht einmal mehr eigene Wünsche haben. Eigene Impulse und Wünsche sind für das Kind oft mit Schuldgefühlen verbunden, denn die eigenen Wünsche sind immer eine Gefahr für die enge Bindung, die die Mutter von dem Kind fordert. „Wenn meine Mutter das Füllhorn ihrer Liebe über mir ausschüttet, bekomme ich blaue Flecken davon“ (Riemann S.79)

Verwöhnen kann auch sein, wenn die Mutter das Kind nicht gewollt hat, dann aber eine gute Mutter sein möchte und das Kind diese Doppelbotschaft spürt. Ablehnende Gefühle, Schuldgefühle werden von Verwöhnen als Wiedergutmachung überdeckt. Aber das Kind spürt den Mangel an echter Liebe. Möglicherweise empfindet das Kind schon sein Dasein als Schuld.

Das Versagen ist häufig bei kargen, wenig mütterlich-liebesfähigen harte Frauen zu finden. Selbst ohne wirkliches liebevolles Mutterbild und meist noch unterstützt durch die versagenden Erziehungsmethoden ihrer Zeit, sind sie nicht zur liebevollen Fürsorge für ihr Kind in der Lage. Der hilflose Säugling kommt so zu einer resignativen Einstellung der Welt und seinen eigenen Bedürfnissen gegenüber.

Diese Säuglinge leben später in Hoffnungslosigkeit, sie können nicht an sich und an die Zukunft glauben, sie haben nur gelernt sich anzupassen. Sich nicht zu freuen und glücklich zu sein dient oft der Enttäuschungsprophylaxe. Hat das Kind das Gefühl nicht liebenswert zu sein, kommt es zu tiefen Minderwertigkeitsgefühlen, bis hin zu dem Gefühl kein Lebensrecht zu haben.

Verwöhnung und Versagen führt zu dem gleichen Ergebnis, nur treten Angst und Krisen im Falle des Verwöhnen später auf, wenn die verwöhnende Mutter nicht mehr da ist und keine „Ersatzmutter“, z.B. in Form einer Ehefrau oder staatliche Institution, gefunden wurde. Das Kind das mit Versagen aufgewachsen ist, lernt früh zu verzichten und wird zu einem für die Eltern bequemen angepassten Kind. Sie können oft schwer mit mehreren Kontakten gleichzeitig umgehen, da sie innerlich unter hohem Anpassungsdruck stehen.

Berufswahl

Die häufige Berufswahl Depressiver für helfende Berufe ist ihr Versuch das erlebte Liebesdefizit zu sublimieren. Depressive können schwer Nein sagen. Drängt man sie, flüchten sie in den unbewussten Streik, oder als schlechtere Alternative in das Funktionieren, aus dem sie sich nur durch zunehmende Apathie, Gleichgültigkeit, Krankheit, Sucht oder Selbstmord retten können. Sie befinden sich in einer Pattsituation, in der sie sich immer mehr aufgeben und Forderungen erfüllen wollen, damit haben Sie keine Lebensfreude. Aber wenn sie sich den Forderungen entziehen, bekommen sie Schuldgefühle, sie resignieren.

Zusammenfassung

Depressive vermeiden aus Verlustangst und der Angst vor dem Alleingelassen werden eine Individuation. Deshalb identifizieren sie sich bis zur Selbstverleugnung mit dem Anderen. Im positiven ergibt sich daraus ein hohes Einfühlungsvermögen und Fremdverständnis. Diese Du-Bezogenheit führt zu einem hohen Verantwortungsgefühl, das zu Überforderung führen kann. Unbewusste Abwehrmöglichkeiten sind dann Krankheit, Burn-out etc.

Die Forderung des Christentums „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, wird oft als „mehr als dich selbst“ missverstanden. Aus dieser Ideologie ziehen Depressive moralische Genugtuung. Deshalb und weil diese Haltung für sie viel Verzicht bedeutet hat ist es schwer sie zu korrigieren.

Bescheidenheit, Demut, Friedfertigkeit usw. zu kultivieren bedeutet für sie auch eine Rettung aus dem Gefühl der Schwäche. Dadurch sind sie leicht auszunützen. Sie sind oft religiös, der Glaube gibt ihrem Leben Sinn, andererseits überlassen Sie Gott und dem Teufel zu viel und übernehmen keine Eigenverantwortung.

Die Spannbreite der depressiven Persönlichkeit geht von leicht bis schwer, Kontemplation bis zu Hoffnungslosigkeit, Depression. Beruflich sind sie oft in mütterlichen, helfenden Berufen zu finden, die für sie nicht Job sondern Berufung sind. (Ärzte, pflegende, Gastronom, Pädagoge…) Für diese Tätigkeiten ist ihnen ihre Geduld und die Fähigkeit Auszuharren und zu Ertragen zu können sehr hilfreich.

Yoga kann eine stützende und stabilisierende Funktion vor und in leichten depressiven Phasen haben. Eine mittelschwere bis schwere Depression ist immer therapeutisch zu behandeln. Yoga kann hier begleitend unterstützen.

Die persönliche Entscheidung ist immer, ab wann man sich professionelle Hilfe sucht, um schneller und auch nachhaltiger eine depressiven Phase zu überwinden. Es ist sinnvoll nicht zu warten, bis man ganz in der Talsohle angekommen ist (wer weiß schon wie tief das Tal ist!), sondern schon vorher sich Unterstützung zu suchen, um wieder aus der Abwärtsspirale hinaus zu kommen. Man spart sich Lebenszeit, die sonst ungelebt und ohne Freude verstreicht.

Der Umfang und die Dauer einer Therapie ist immer eine Entscheidung des Klienten. Es entsteht öfters im Laufe des therapeutischen Prozesses der Wunsch nach tieferer Aufarbeitung der depressiven Reaktionen, die dann eine längere Arbeit erfordern.

Besuchen Sie auch meine Seiten zur Psychotherapie.

Zum Umgang mit depressiven Partnern gibt es bei Liebesmeer einen guten Artikel.

Zum Weiterlesen:
Riemann, Fritz: Grundformen der Angst,1982, Ernst Reinhardt Verlag, München