Abschied – Neubeginn

18.11.2020

Abschied nehmen wird als erstes mit dem Tod eines nahestehenden Menschen assoziiert.

Dabei bedeutet Abschied nehmen viel mehr und ist auch im Alltäglichen Leben notwendig. Es beginnt mit der Geburt, Mutter und Kind müssen von der innigen Phase eins zu sein Abschied nehmen und endet mit dem eigenen Tod. Dazwischen gibt es unendlich viele Abschiede verschiedener Schwierigkeitsgrade.

Abschied im Täglichen

Im Täglichen treffen wir jemanden, begrüßen ihn und verabschieden uns wieder. Heute viel mit Tschüs oder einer anderen landessprachlichen Form, früher war es „Auf Wiedersehen“. Dies implizierte schon den Wunsch nach einer erneuten Begegnung.

Wir verlassen morgens die Wohnung, die Familie oder nur die Räume, gehen abends von der Arbeit und verabschieden uns dort, usw. Den ganzen Tag begrüßen wir Menschen und verlassen sie wieder. Abschied gehört zu dem Ende eines Kontaktes, sonst lassen wir einen Faden offen.

Ich vermute, dass die neuen Medien auch dort eine Veränderung bewirkt haben, denn sie suggerieren, „man ist ständig im Kontakt“ – deshalb hat man auch die Illusion, dass kein bewusster Abschied mehr notwendig ist.

Neben dem Abschied von Menschen, lösen wir uns von Sachen und von Tätigkeiten. Je besser wir im Kleinen gelernt haben uns zu verabschieden, desto leichter wird es uns mit großen, schwierigeren Abschieden gelingen.

Übergang zu neuen Lebensphasen

Der Übergang zu neuen Lebensphasen, wie Jugend zum Erwachsenen (Konfirmation, Firmung, Jugendweihe), Hochzeit zur Familiengründung, etc, wird traditionell mit Ritualen und Festen vollzogen. Häufig gibt es eine Vorbereitungszeit, die einerseits auf das Neue hinführen soll, andererseits auch den alten Lebensabschnitt beendet. Auch hier geht es um Abschied von einem Lebensabschnitt. Nur wenn wir den alten Lebensabschnitt hinter uns lassen, können wir in den nächsten eintreten und uns unserer neuen Aufgabe widmen. Erst wenn wir uns von der Schule verabschiedet haben, können wir eine Lehre oder Studium beginnen. Erst wenn wir uns vom Arbeitsleben verabschieden, können wir unseren Ruhestand genießen.

Trennungen

Eine Trennung ist eine schmerzliche Erfahrung, die wir oft versuchen zu vermeiden. Dies ist z.B. mit der Floskel „man sieht sich“ möglich, die so oft benutzt wird, obwohl klar ist, dass eine Wiederbegegnung unwahrscheinlich ist. Wir lassen uns damit eine Hintertür offen. Dagegen ist ein wirklicher Abschied nicht umkehrbar, er hat etwas Endgültiges.

Überprüfen Sie mal die Kontaktdaten auf Ihrem Handy – wie viele sind „angestaubt oder gänzlich verstaubt“?

Tod

Sterben können Unbekannte, weitläufige Bekannte, Freunde, nahe Verwandte und auch wir selbst. Jeder Abschied, den wir im Laufe unseres Lebens gut bewältigt haben, ist eine Übung für den Tod. Erst den Tod mancher Lieben, zumindest die Eltern sterben meistens vor uns, und dann unseren eigenen. Gerade die Auseinandersetzung mit dem Thema Tod wird häufig vermieden.

Warum Abschied so wichtig ist

Jede Veränderung ist mit einem Abschied verbunden. Jeder Neuanfang ist nur durch das Ende von etwas Anderem möglich. Ohne Abschied können wir uns nicht verändern und weiter entwickeln.

Durch die Vermeidung eines Abschieds halten wir etwas fest, wodurch wir sehr viel unserer Energie binden. Dies können wir schon beim Aufräumen und Ausmisten unserer Wohnung erfahren. Ein gründliches Ausmisten bringt etwas in Bewegung und setzt Energie frei.

Als Yogalehrerin und selbst als Therapeutin erlebe ich es immer wieder, das Menschen einfach weg bleiben. Es bleibt für alle Beteiligten ein offener Kontakt. Jeder kann diesen zwar für sich beenden, aber dies ist etwas Anderes als ein gemeinsamer Abschied. Verabschiedet man sich nicht, ist es als ob man zwar neue Möbel kauft, aber die alten auch behalten möchte. Es sammelt sich immer mehr an, bis die Wohnung nicht mehr betretbar ist.

Zum Schluss ein Ausschnitt aus einem Gedicht von Rabindranath Tagore aus der Gitanjali

„Das Kind weint auf, wenn es die Mutter
Wegnimmt von der rechten Brust,
Und findet an der linken schon
Im nächsten Augenblick den vollen Trost.“