Anekanantavada – die Lehre der Relativität

22.05.2017

Die Anekanantavada fasziniert und begeistert mich jedes Mal wieder, wenn ich mich damit intensiver beschäftige. Sie ist eine Besonderheit in der Jain Philosophie. Für mich ergänzt und erweitert sie die Doktrin von Ahimsa – der Gewaltlosigkeit, da durch ihre Einhaltung sich Streitereien schon im Ansatz vermeiden lassen.

Definition

Ich möchte wieder mit dem Bedeutungshof des Sanskritwortes beginnen:
Am besten lässt es sich durch Ekantavada verstehen, Ekanta heißt Einseitigkeit, d.h. etwas von einer Seite betrachten und diesen Standpunkt einzunehmen.

Das „an“ als Vorsilbe bedeutet „nicht“, man sieht etwas also nicht nur von einer Seite sondern berücksichtigt mehrere Standpunkte.

Die Übersetzungen dieser Doktrin

  • Philosophie des Nicht – Absolutismus
  • Die Theorie der vielfältigen Natur der Realität
  • Philosophie der Integration
  • Philosophie der Harmonisierung
  • Theorie der Vielfältigkeit
  • Theorie der Nicht-Einseitigkeit

Beispiel

Sechs Blinde begegneten einem Elefanten. Einer bekam den Schwanz zu fassen und sagte ein Elefant ist wie ein Seil. Einer tastete am Bein und sagte nein er ist wie eine Säule, der andere fasste das Ohr und sagte er ist wie ein großer Fächer, der nächste hatte den Rüssel und sagte er ist wie eine Python, einer fühlte am Bauch und sagte er ist wie eine Trommel und der sechste saß auf dem Rücken und sagte er ist wie eine Plattform.

Jeder hatte aus seiner eingeschränkten Sichtweise her recht und doch trifft keine der Beschreibungen die gesamt Beschaffenheit eines Elefanten. Dies wäre eine klassische Situation, um einen heftigen Streit vom Zaum zu brechen, wenn jeder auf seinem Standpunkt beharrt. Nur jemand mit einem größeren Blickwinkel, kann die verschiedenen Standpunkte, den gesamten Elefanten, erkennen. In diesem Beispiel kommt ein Sehender um die Gesamtheit des Elefanten zu beschreiben.

Vertiefung des Themas

Ekantavada – eine einseitige Sichtweise

Ekanta führt über Rechthaberei zu Dogmatismus und Intoleranz, denn es bedeutet, dass ich davon überzeugt bin, dass nur meine Meinung richtig sein kann. Im Jainismus wird dies als falsche Wahrnehmung und falsches Wissen angesehen.

Anekantavada – die Vielfältigkeit der Sichtweise

Sie ist das Gegenteil von Ekantavada. Sie akzeptiert die Verschiedenheiten der Realität.

Ein Beispiel, aus philosophischer Sicht

Die indische Philosophie des Vedanta geht davon aus, dass die Realität konstant ist und sich nicht ändert. Im Gegensatz dazu geht der Buddhismus davon aus, dass nichts konstant ist und die Realität sich ständig ändert, da es immer ein Entstehen und eine Zerstörung gibt.

Für den Jainismus sind beides Extrempositionen. Für sie wird die Realität durch Entstehung, Zerstörung und Kontinuität charakterisiert.

Betrachtet man den Menschen, so ist nach Ansicht der Jain Philosophie, die Seele von der Natur aus beständig. Betrachtet man den Körper, so wird er beim Sterben zerstört und bei der Geburt entsteht der Körper neu.

Ein anderes Beispiel ist ein goldener Armreifen. Wenn er kaputt geht, ist er als Armreif unbrauchbar, d.h. er ist zerstört. Betrachtet man das Gold, so ist das Metall beständig und überdauert selbst Feuer und Witterungseinflüsse. Durch neues Gießen kann ein neues Ornament gewonnen werden. Vergleicht man es mit dem Menschen, entspricht das Gold der beständigen Seele, während der Armreif als Form mit dem Körper verglichen wird.

Konsequenz für unseren Alltag

Was bedeutet dies in unserem täglichen Leben? Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass es für jede Sache, Meinung etc. verschiedene Ansichten gibt und wir in unserer „blinden“ Beschränkung nicht alle Seiten berücksichtigen können. Die Anekanantavada fordert uns auf, einen Schritt von unserer Ansicht zurück zu treten und etwas aus einem größeren Blickwinkel zu betrachten.

Dies klingt sehr einfach, logisch und fast trivial. Aber wie häufig führt die Einseitigkeit des Standpunktes zu Streit und Gewalt. Wer kennt nicht die sich aufschaukelnden Diskussionen, in der jeder versucht Recht zu haben!
Auf der anderen Seite bekam ich schon öfters den Vorwurf, dass dies zu einer Standpunktlosigkeit führt. Dies ist aber nicht so. Vielmehr ist es die Kunst in einer Debatte von seinem eigenen Standpunkt einen Schritt zurück zu treten, sich auf die Metaebene zu begeben, um in der Lage zu sein die anderen Standpunkte auch zu sehen.

Dies heißt nicht, dass man sie annehmen muss und dadurch orientierungslos wird. Es bedeutet vielmehr, dass der Blick weiter wird. Es ermöglicht ein besseres Zuhören. Vielleicht gelangt man so zu einem Kompromiss und wenn es der Kompromiss ist, dass es verschiedenen Standpunkte gibt und man keinen gemeinsamen findet.

Zusammenfassung

Die Anekanantavada bedeutet, dass wir, solange wir eine Sache nicht von allen Seiten her betrachtet haben, wir nicht in der Lage sind ein abschließendes Urteil darüber zu fällen. Dies ist eigentlich nur erleuchteten Seelen, kevali gnana, möglich. In sofern fordert sie uns dazu auf anderen zuzuhören, Kompromisse zu finden oder auch manche Themen ungelöst offen zu lassen und sich mit diesen Menschen auf die Themen zu beschränken, wo man sich besser versteht und die nicht zu unlösbarem Streit führen.

Zum Weiterlesen

Ich kann nur englischsprachige Literatur, die von Jains geschrieben wurde, zum Vertiefen empfehlen.

Sancheti & Bhandari, First Steps to Jainism, Bd. 2, Jodhpur 1994