Die hysterischen Persönlichkeiten

08.05.2017

Heute möchte ich die dritte der vier Grundformen der Angstverarbeitung nach Riemann vorstellen. Natürlich ist jeder Mensch facettenreich und dies soll nicht dazu verleiten andere in Schubladen zu stecken, aber vielleicht lässt sich doch die ein oder andere Eigenheit damit besser verstehen.

Grundsätzliche Probleme

Die hysterische Persönlichkeit hat Angst vor dem Endgültigem, vor der Begrenzung des Freiheitsdrangs. Dies steht im genauen Gegensatz zu der Angst der zwanghaften Persönlichkeit. Sie fürchten alle Tradition und Einschränkungen, dafür bejahen sie alles Neue, jede Veränderung und jedes Risiko. Nichts hat Anspruch auf Gültigkeit. Langfristige Planung ist für sie schwer zu ertragen. Freiheit ist ein Wert für sich selbst und nicht Freiheit für etwas. Aus dieser Angst heraus wird alles gemieden was festlegt, wie Geschlechtsrolle, Alter, Tod aber auch gesellschaftliche Regeln und Gesetze etc. D.h. man fürchtet das, was als Wirklichkeit und Realität bezeichnet wird am meisten. Deshalb wird die Realität in Frage gestellt, relativiert oder bagatellisiert. Sie erlangen so eine Scheinfreiheit, leben dadurch aber immer mehr in einer Pseudorealität. Die Kluft zwischen Wunschwelt und Wirklichkeit wird immer größer. Zur Aufrechterhaltung dieser Pseudorealität wird Handlung und Folge, Ursache und Wirkung als nicht existent gesehen. Hilfreich ist dazu die Vogel-Strauß-Politik oder das Motto „nach mir die Sintflut“.

Realität

Hysterisches Verhalten ist von Wunschbesessenheit und dem Drang nach Sofortbefriedigung geprägt. Die Konsequenzen der eigenen Handlung werden missachtet, sie versuchen Zeit zu gewinnen und auf Wunder zu hoffen. Sie sind sehr geschickt sich der Konsequenzen ihres Handelns mit Hilfe von Ausflüchten, Umdichtungen etc. zu entziehen. Deshalb ist Verantwortung ein für sie unbehaglicher Begriff. In vielen Lebensbereichen entziehen sie sich der Festlegung. So sind Pünktlichkeit, Zeitplanung und Zeiteinteilung für sie pedantisch und kleinlich, worunter jedoch mehr ihre Umwelt leidet, als sie selbst. Das Altern nimmt man auch möglichst nicht zur Kenntnis und verhindert es mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. (Kosmetika, Schönheitschirurgie…) Ebenso lassen sich hysterisch strukturierte Persönlichkeiten nicht durch Ethik und Moral einengen. Einmal ist keinmal und die Gedanken sind frei sind hilfreiche Mottos. Logik ist eine lästige Realität und da sie sowieso häufig ihre eigene Pseudorealität entwickeln, wird auch eine eigene Logik entwickelt.

Eine Möglichkeit sich Verpflichtungen zu entziehen ist das Leben im Augenblick, so als haben sie keine Vorgeschichte. Dadurch bekommt das Leben etwas Punktförmiges, fragmentarisches, aber hat zu wenig von einer Ich-Kontinuität, die als Charakter bezeichnet wird. Sie spielen immer eine Rolle, die der augenblicklichen Situation geschuldet ist und wissen vor lauter Rollenspiel nicht mehr, wer sie selbst wirklich sind. Eine andere Möglichkeit ist es die Schuld anderen zuzuschieben, Selbstvorwürfe werden in Fremdvorwürfe umgewandelt. Dies geschieht wie bei Kindern reflexhaft. Kritik wird gleich in Gegenkritik umgewandelt. Dies entlastet im Augenblick macht aber jede Selbsteinsicht unmöglich. Es führt zu zunehmender Unaufrichtigkeit.

Angstverschiebung

Die eigentliche Angst, die vor der Notwendigkeit und Endgültigkeit wird nicht bewusst und verschiebt sich auf andere Ängste. Häufig zu finden sind Platzangst (Agoraphobie), die Angst vor verschlossenen Räumen (Klaustrophobie) und auch Tierphobien. Diese Ängste sind nebensächlich und vermeidbar, jedoch schränken sie oft den Alltag ein. Da dies kein verlässlicher Angstschutz ist, gibt es Situationen, in denen sie sich in die Enge gedrängt fühlen. Dann kommt es zu Panikreaktionen, in denen die Situation nicht mehr durchdacht werden kann.

Selbstwertgefühl

Der hysterische Mensch liebt alles, was sein Selbstwertgefühl steigern kann, so auch die Liebe, den Rausch und die Leidenschaft: Er such die Erlebnissteigerung, die ihn über sich selbst hinauswachsen lässt. In Liebesbeziehungen ist er leidenschaftlich und fordernd und sucht vor allem die Bestätigung seiner selbst. Die Liebe selbst ist wichtiger als der Partner. Er lebt auf bei Glanz, Pracht und Festen und steht gerne im Mittelpunkt. Es ist jedoch eine Todsünde ihn nicht liebenswert zu finden. Je stärke die hysterische Persönlichkeit ausgeprägt ist, desto stärker wird die fordernde Haltung und das Bedürfnis nach Bestätigung. Die Liebesbeziehung wird dann immer mehr zur Selbstbestätigung gebraucht, das Selbstwertgefühl aus Liebesbeweisen bezogen. Im Alter, wenn die äußere Anziehungskraft schwächer wird kann es deshalb zu Alterskrisen kommen.

Sein Narzissmus braucht ständige Bestätigung, wofür er den Partner braucht. So kommt es zur narzisstischen Partnerwahl, entweder sucht er sich selbst im Partner, oder einen möglichst unscheinbaren Partner, um sich glänzend von ihm abzuheben. Kann der Partner diese Wünsche nicht mehr erfüllen, wird ein neuer Partner gesucht. Schürzenjäger und Männerverbraucherinnen sind häufig in dieser Persönlichkeitsstruktur zu finden.
Materielle Werte und Prestige (Geld, Titel, Stellung) sind ihnen am Partner wichtiger, als charakterliche Werte. Sie neigen auch dazu eigene Mängel zu projizieren, was eine Partnerschaft besonders belastet.
Beispiele in der Literatur ist Scarlett aus „Vom Winde verweht“ oder die Frau aus dem Märchen „der Fischer und seine Fru“.

Aggression

Da die Hysterie sich zwischen dem 4. – 6. Lebensjahr entwickelt herrscht auch die Aggressionsform dieser Lebensphase vor. Es ist das Rivalisieren und Konkurrieren. Wettstreit und sich-bewähren-wollen steht im Dienst des Geltungsdrangs, mit der Spannweite von Selbstglorifizierung bis zum Hochstapler. Sie reagieren oft unüberlegt, aber wenig nachtragend, mit allen Graden von impulsiven Äußerungen, bis zur Willkür.

Häufig findet sich ein imponieren Wollen, das umso höher ist, je größer die Diskrepanz zwischen Sein und Schein, zwischen dem Realität-Ich und dem Wunsch-Ich ist. Sie neigen zu Übertreibungen, zu Verallgemeinerungen und zum Dramatisieren. Sie sind Überraschungssieger, denn sie Überrumpeln gerne, nach dem Motte Angriff ist die beste Verteidigung. Auf Kritik wird dann nicht eingegangen, sondern der Partner wird mit einer Flut von Vorwürfen überschüttet, die mit der Kritik nichts zu tun haben. Der Spieß wird umgedreht. Auch die Intrige ist Teil einer hysterischen Aggression, die aus der Kindheitssituation zu verstehen ist, wo das Kind zwischen den Interessen der Eltern oder Geschwister hindurch lavieren musste.
Die hysterische Aggression neigt dazu sich in Szene zu setzen, mit wird schauspielerischer Begabung in flammender Entrüstung oder Anklage eingesetzt, die ohne Publikum in sich zusammen fällt.

Lebensgeschichtliche Entwicklung

Lebensgeschichtlich wird die Entstehung einer hysterischen Struktur zwischen dem 4. – 6. Lebensjahr gesehen. Lebhaftigkeit, Spontanität und ein Kontakt- und Geltungsbedürfnis ist förderlich, um eine hysterische Persönlichkeitsstruktur zu entwickeln. In diese Zeitspanne lernt das Kleinkind zunehmend Verantwortung, Vernunft, Realitätsprüfung und Realitätsfindung. Für diesen Entwicklungsschritt braucht es Führung und Vorbilder. Es muss in seinem altersgemäßen Können ernst genommen und anerkannt werden. Fehlen diese Vorbilder, oder das Kind wird weiter als Kleinkind behandelt oder wächst es in einem chaotischen, widerspruchsvollem, unverständlichen Milieu auf, zieht das Kind vor unverantwortliches Kind zu bleiben.

Sie haben also ihre Identität nicht gefunden und bleiben entweder in der Bewunderung ihrer Vorbilder oder in der Rebellion gegen sie stecken. Sie leben also in einer Pseudorealität und Echtheit ist für sie ein großes Problem.

Vor Alter und Tod verschließen sie so lange wie möglich die Augen, denn es ist eine nicht zu vermeidende Realität. Sie versuchen die Illusion ewiger Jugend aufrecht zu halten und haben große Schwierigkeiten in Würde zu altern.

Facetten der hysterischen Persönlichkeit

Eine ansteigende Linie hysterischer Persönlichkeitsstrukturen sähe so aus: „lebendig-impulsive Menschen mit betonterem Geltungsdrang und Eigenliebe – narzisstische Bedürfnis nach Bestätigt werden und Mittelpunkt-sein-Wollen – überwertiger Geltungsdrang und Kontaktsucht – hysterische Unechtheit, Rollenspiel und Realitätsflucht bis zur Hochstapelei – … – Phobien – schwer hysterische Krankheitsbilder mit seelischer und körperlicher Symptomatik, welch letztere sich auf kein Organsystem festlegen lässt, bei einer gewissen Bevorzugung der Extremitäten (Lähmungserscheinungen).“ (Riemann, S. 198)

Zum Weiterlesen

Riemann, Fritz: Grundformen der Angst,1982, Ernst Reinhardt Verlag, München