Die zwanghafte Persönlichkeit

06.02.2017

In meinen Ausführungen zur zwanghaften Persönlichkeit beziehe ich mich weitgehend auf das Buch von Riemann, die Grundformen der Angst. Dieses Grundlagenbuch erschien 1961 und wird heute noch in weitgehend unveränderter Neuauflage verkauft.

Allgemeines

Die Angst des Zwanghaften ist die Angst vor der Veränderung und der Vergänglichkeit. Deshalb versucht er Veränderungen zu vermeiden oder zumindest auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Er hält an Meinungen, Einstellungen, Gewohnheiten usw. fest. Neues wird immer skeptisch betrachtet, wodurch neue Entwicklungen, auch die eigene, gehemmt wird. Das Sicherheitsbedürfnis von Zwanghaften ist überentwickelt. „Sie gleichen jenem Mann, der erst ins Wasser gehen wollte, wenn er schwimmen konnte – sie sind sozusagen Trockenkursler des Lebens.“ (Riemann S. 107)

Auch ein Sammeltrieb entspricht dem Wunsch die Vergänglichkeit auszutricksen. Es werden Briefmarken, Porzellan oder im schlimmsten Fall alles gesammelt. Das Extrem der Sammelwut endet im Messi.
Ein Zuviel des Festhaltens kann man ebenso auf anderen Gebieten finden. Starre Traditionen auf gesellschaftlicher, moralischer, politischer, religiöser oder auch wissenschaftlicher Ebenen können je nach Ausprägung dogmatisch oder fanatisch werden.

Dieses Bedürfnis nach Kontrolle erstreckt sich auch auf ihre Mitmenschen, denen sie vorschreiben wollen, wie sie ihrer Meinung nach sein sollen. Zwanghafte haben Angst, dass ohne ständige Selbst- und Fremdkontrolle alles unsicher und chaotisch würde. Besonders deutlich wird dies im Generationskonflikt. Partner, Kinder und Abhängige sind besonders von der Kontrolle betroffen.

Der Fluss des Lebens, der immer Veränderung bedeutet, wird durch Zaudern, Zögern und Zweifeln gebremst. Auch Rationalisierung dient der Abschirmung vor dem Erleben, dem Unberechenbaren.

Funktion der Zwangssymptome

Genügt das alles nicht, um die Angst zu bewältigen, kommt es zu Zwangssymptomen und Zwangshandlungen (Wasch-, Grübel-, Zählzwang…) Sie haben die Funktion die Angst in Schach zu halten. Das eigentliche Problem wird auf etwas Banales verschoben. Dadurch wird das Problem immer versteckter und entzieht sich immer mehr der echten Auseinandersetzung. Die zwanghafte Abwehr der Angst kann sich auf innere Vorgänge, auf Gedanken oder Wünsch beziehen, die dann mit Worten oder auch Selbstbestrafung abgewehrt werden müssen. (Magische Sprüche, religiöse Fanatismus)

Die Zwänge haben die Tendenz zu wuchern und sich weiter auszudehnen. Dadurch nehmen sie immer mehr Raum im Leben ein und engen es immer mehr ein.

Liebe

Liebe und alle Gefühle die damit verbunden sind, sind schwer mit dem Sicherheits- und Kontrollbedürfnis Zwanghafter zu vereinen. Sie sind sparsam mit ihren eigenen Gefühlsäußerungen und verstehen auch die ihres Partners nicht. Gefühle und Zuwendung werden häufig durch Regeln und vernünftige Programme ersetzt. Der Partner wird zumeist nicht als gleichberechtigt anerkannt. So wird die Beziehung zum Machtkampf um die Überlegenheit. Abhängigkeiten werden aus Machtbedürfnis heraus geschaffen.

Andererseits übernimmt der Zwanghafte Verantwortung. Hat er sich zu einer Heirat entschlossen, ist sie für ihn unauflösbar. Im schlimmsten Fall kommt es zu Ehen, die sich gegenseitig quälen und hassen, aber auf Grund des zwanghaften Festhaltens zusammen bleiben. Zeit, Geld, Pünktlichkeit und Sparsamkeit sind in solchen Beziehungen wichtig. Darüber wird in der Partnerschaft Macht ausgeübt. Das Patriachart unterstützte diese Form der Ehe.

Aggression

Für zwanghafte Menschen ist Aggression schwierig, denn er hat gelernt sich zu kontrollieren und zu beherrschen. Es geschieht aber nicht aus Verlustangst, sondern aus Angst vor Strafe. Durch die frühe Angst vor Bestrafung werden affektiv-aggressive Verhaltensweisen unterdrückt, was sich in einer motorisch-aggressiven Gehemmtheit und einer Unsicherheit in der Bewegung niederschlägt.

Als Folge aggressiver Tendenzen stellen sich bei einer zwanghaften Persönlichkeitsstruktur Schuldgefühle ein. Auf Grund der Schuldgefühle tritt der Wunsch nach Wiedergutmachung auf, der bis zur Selbstbestrafung führen kann.

Kompensiert wird der Zwang häufig mit einer Idealisierung der Selbstbeherrschung und Selbstzucht. Gezeigte Affekte werden als ein sich gehen lassen bewertet. Durch diesen Mechanismus stauen sich immer mehr Affekte auf, die kontrolliert werden müssen. Daraus können sich wiederum Zwangssymptome entwickeln.

Eine andere Möglichkeit mit unterdrückten Gefühlen umzugehen ist z.B. eine Berufswahl, die Aggressionsäußerungen legitimiert. So entstehen Fanatiker, die auf hygienischem, auf triebhaftem, moralischem oder religiösem Gebiet kompromisslos und rücksichtslos gegen etwas kämpfen. In den Berufen wie Militär, Polizei, Richter, Geistliche, Pädagogen und Staatsanwälte finden sich gehäuft Menschen mit zwanghaften Strukturen.

Richtet der Depressive seine Aggression eher gegen sich selbst, so kämpft der Zwanghafte gegen etwas oder jemanden außen.

Auch übermäßige Korrektheit ist eine milde Variante legitimierter Aggression und Machtausübung, ebenso wie die versteckte Aggression in Hinterlist und Verschlagenheit. Weitere Formen versteckter Aggression finden sich in: Trödeln, Umständlichkeit, Unentschlossenheit, Nörgeln, trotziges oder tödliches Schweigen und der Angewohnheit sich wegen jeder Kleinigkeit bitten lassen. Wird der Innendruck der Aggression zu groß kann es zu Jähzorns Ausbrüchen kommen, bis hin zum Amoklauf.

Häufige somatische Krankheiten sind: Herz- und Kreislaufstörungen, Blutdruckschwankungen, Kopfschmerzen, Migräne, Schlafstörungen, Koliken u. a.

Lebensgeschichtlich

Lebensgeschichtlich wird die Entstehung einer Zwangsstruktur durch Störungen im 2. – 4. Lebensjahr gesehen. Konstitutionell sind sowohl lebhafte Kinder, die häufig „anecken“ betroffen, sie werden reglementiert und gebremst. Aber auch ruhigere Kinder mit einer gründlich-, grüblerischen Genauigkeit und gefühlsmäßigen Anhaften sind betroffen.

In diese Zeit fällt die erste Ablösung des Kindes und der Konflikt zwischen eigenem Willen und Gehorchen müssen. Die Sauberkeitserziehung ist ein großes Thema in dieser Lebensphase. Wird das Kind zu früh und starr in seinen aggressiven und affektiven Impulsen gebremst, jede Äußerung des eigenen Willens bestraft und unterdrückt wird der Grundstein für zwanghaftes Verhalten gelegt.

Auch bei einer altersmäßigen Überforderung, z.B. zu früh sauber, gutes Benehmen bei Tisch, ist es notwendig, dass das Kind seine Affekte unterdrückt. Geschwistergeburten mit der dabei empfundenen Rivalität, ist für das Kind in diesem Alter ohne Unterstützung der Eltern schwer zu verarbeiten.

Die Unterdrückung der Impulse führt dazu, dass später zwischen Impuls und Ausführung eine Unterbrechung eingeschoben wird, um den Impuls abzuschwächen und kein Risiko einzugehen. Auf der Körperebene kann dies zu Zittern oder Stottern führen.

Der Mut zur Tat und die Angst vor Strafe ist das Dilemma der Zwanghaften. Daraus folgt Zweifel, der zu Zaudern und Unentschlossenheit führt. Andererseits sind einmal gefällte Entscheidung endgültig und nicht widerruf bar. Es entwickelt sich ein Hang zum Perfektionismus.

Wächst ein Kind in chaotischen Verhältnissen auf können sich zwanghafte Tendenzen als Reaktion und Kompensation zu diesem Milieu einstellen.

Gewohnheiten sind zeit- und kräftesparende Rituale. Zu Zwängen werden sie erst, wenn wir sie nicht mehr ändern können. Zwanghaftes Denken und das sich ständig absichern müssen hemmen die künstlerischen, intuitiven Fähigkeiten. „Wir wissen zwar nicht genau, was wir messen – aber was wir messen, messen wir genau.“ (Riemann S. 148) drückt die Arbeitsweise Zwanghafter deutlich aus.

Zwänge werden vor sich und anderen rationalisiert, trotzdem werden sie vom Betreffenden als Ich-fremd erlebt. Hilfe kann im Bewusstmachen der Ursachen der Zwänge und das Integrieren der gefürchteten Impulse liegen. Meistens sind es aggressive, affektive und sexuelle Impulse die hinter den Zwängen stehen.

Verlauf der Störungen

Je nach Persönlichkeitsstruktur gibt es zwei unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten. In beiden Möglichkeiten gibt es leichte und schwere zwanghafter Störung.

Für stärkere Persönlichkeiten geht sie: „sachlichen, pflichttreuen, verlässlichen Menschen über zunehmende Nüchternheit zum ehrgeizigen Streber – zum unbelehrbaren Eigensinnigen und Querulanten – zum tyrannischen Machtmenschen, Despoten und Autokraten, bis zum Zwangskranken verschiedenen Grades; am Ende des Krankheitsbildes stände das Krankheitsbild der psychotischen Katatonie.“ (Riemann S. 154f)

Bei schwächerer Persönlichkeit gestaltet sich die Linie so: „unauffällig Angepasste – vorwiegend sich sichernde Lebensängstliche – Zweifler und Zauderer – Pedanten und Nörgler – der Kriecher und „Radfahrer-Typ“ – asketische Hypochonder; am Ende stehen auch hier die Zwangskrankheiten im engeren Sinne.“ (Riemann S.155)

Positiv können Gesunde mit zwanghaften Strukturen Tragfähigkeit, Ausdauer, Pflichtgefühl, Strebsamkeit und Fleiß vorweisen. In den Gefühlen sind sie zurückhalten aber beständig.

Zusammenfassung

Ein zwanghafter Mensch möchte am liebsten sein Leben mit allen Aspekten unter Kontrolle haben. Deshalb hält er auf allen Ebenen an Gewohnheiten und Dingen fest. Auch seine Mitmenschen versucht er zu kontrollieren. Da Gefühle beängstigend und spontan sind, werden sie nur sparsam geäußert. Dazu gehört auch die Aggression.

Die Ursachen einer Zwangsstörung sind zwischen dem 2. und 4.Lebensjahr zu suchen. In diese Zeit fällt der Konflikt zwischen eigenem Willen und gehorchen müssen. Das Verhalten wird durch die Angst vor Bestrafung dominiert.

Zum Weiterlesen:

Riemann, Fritz: Grundformen der Angst,1982, Ernst Reinhardt Verlag, München