Freiheit des Willens?

28.10.2018

Vorherbestimmt oder Freiheit des Willens?

Sind wir frei? Frei in unserem Glauben, in unserem Handeln, in unseren Wünschen und frei unseren Weg zu gestalten? Kurz gesagt haben wir die Freiheit des Willens, oder sind wir durch unsere Bestimmung, unserer Natur, die Zeit, in der wir leben, bestimmt? Oder gibt es anderen Kräften, welchen Namen wir diesen auch immer geben, die unser Leben bestimmen?

Diese Fragen haben Menschen in jeder Kultur und zu jeder Zeit beschäftigt.

Beispiele

Wenn zwei Menschen ihr Korn unter gleichen Umständen und der gleichen Weise sähen, kann es sein, dass einer viel, der andere wenig erntet.

Selbst Zwillinge, die äußerlich betrachtet in den gleichen Lebensumständen groß geworden sind, können sich völlig verschiedene entwickeln.

Diese Frage, wie viel wir selbst über unser Leben bestimmen und wie viel wir uns verändern können ist, beschäftigt jeden immer wieder in seinem Leben.

Welche „Instanzen“ gibt es, denen wir die Entwicklung unseres Lebens zuschreiben?

Im Jainismus gibt es hierzu eine Theorie, die ich hier vorstellen möchte. Dort gibt es fünf Instanzen, die Samvay heißen. Betrachten wir diese Fünf, als ob die jeweils Betrachtete, die einzig bedeutende wäre.

Die fünf Aspekte – Samvay

Zeit – Kaal

Die Zeit ist unendlich, ohne Anfang, ohne Ende. Sie erfüllt das ganze Universum, trägt zur Geburt, Tode, Stabilität, Veränderung, Wachstum und Verfall bei. Jedes Phänomen des Universums muss in der Zeit gesehen werden. Es gibt Menschen, die die Zeit für alles verantwortlich machen.

Disposition – Swabhava

Einige meinen, dass nur die Disposition für die Entwicklung der Dinge verantwortlich ist. So wie man nur mit Ton einen Krug formen kann und nicht mit Baumwolle, so können wir nur Fähigkeiten entwickeln, die uns die Natur gegeben hat.

Bestimmung, Schicksal – Niyati

Dies ist die Ansicht, dass das Schicksal vorherbestimmt ist. Das Leben ist vorherbestimmt. Durch keine Anstrengung ist es uns möglich unserem Schicksal zu entgehen.

Vergangenes Karma – Purakrit

Kurz zu Karma, es sind alle Gedanken, Worte und Taten, die wir aussenden und dadurch die gleichen Schwingungen anziehen. Dies wird Karma genannt (Aktion).Deshalb wird oft geglaubt, dass vergangenes Karma, dafür verantwortlich ist, ob wir mit unserer heutigen Anstrengung Erfolg oder Misserfolg haben. Alle indischen Philosophien beschäftigen sich mit Karma und schreiben ihm mehr oder weniger starken Einfluss auf unser heutiges Leben zu. Eine längere Erklärung zum Karma finden Sie hier.

Eigene Anstrengung – Pursharth

Die eigene Anstrengung als Faktor, der unser jetziges Leben mit allen Freuden und Schmerzen bestimmt. D.h. wir haben die Freiheit des Willens, jederzeit eine eigene Entscheidungsmöglichkeit und auch die eigene Verantwortung. Wir können weder Zeit noch Disposition, noch Bestimmung, noch vergangenem Karma die Verantwortung für unser jetziges Leben geben.

In anderen Philosophien und Religionen gibt es noch einen weiteren Faktor.

Gott, Schöpfer

In vielen Religionen steht Gott, unter welchen Namen auch immer, an erster Stelle. Gott wird alles Unerklärbare zugeschrieben Dies geht von der Schöpfung über Unerklärliches, wie z.B. Krankheiten, plötzliche Todesfälle, bis hin zur Gnade der Erlösung. Damit geben wir ihm auch einen großen Teil von der Verantwortung für unser eigenes Leben.

Was ist jetzt der Standpunkt der Jains? Im Jainismus gibt es die Anekantavad, die Lehre von der Relativität, die besagt, dass man etwas nur vollständig erfassen kann, wenn man es von allen Seiten betrachtet hat. Er wird also nicht die einfache Lösung, dies ist richtig und das ist falsch, bieten.

Alle fünf Faktoren sind für unser heutiges Leben wesentlich, alle zusammen tragen zu unserem Erfolg oder Misserfolg, zu Freude oder Schmerz bei. Nur durch das Zusammenspiel aller fünf wird das Korn zum Wachsen bringen, um bei dem Anfangsbeispiel zu bleiben. Der Samen und die Erde (die Natur), der Samen muss fruchtbar sein (Disposition), das Wasser, die Temperatur (als Zeit), vergangenes Karma des Bauern beeinflusst seine Ernte. Ebenso ist die Anstrengung des Bauern, pflügen, düngen usw., wesentlich für seinen Erfolg.

Trotz der Notwendigkeit aller fünf Faktoren wird der eigenen Anstrengung ein besonderer Stellenwert eingeräumt.

Es ist der einzig aktive Faktor, der einzige Faktor, den wir beeinflussen können. Im Jainismus sind  die anderen Faktoren, wie die Zeit, die Disposition etc. nicht-lebendig, nicht-empfindende Energie und deshalb inaktiv. Noch mal einen kurzen Überblick über die zwei Energien: Jiva die empfindende Energie, Seele, Selbst usw. genannt und Ajiva, die nicht-empfindende Energie die aus Materie (pudgala) und den abstrakten Prinzipien: Bewegung, Ruhe, Raum und Zeit besteht. Anstrengung beruht auf der Aktivität einer Seele, der empfindenden Energie und liegt heute in unserer Verantwortung. Zum Teil ist es sogar möglich durch Anstrengung Einflüsse der Zeit auszuschalten, z.B. Gewächshäuser und auch Karma lässt sich durch Anstrengung, tapas, verändern.

Daraus folgt, dass wir durch Pursharth, Anstrengung, einerseits die Freiheit des Willens haben und andererseits gleichzeitig die Verantwortung für unser Leben.

Diese Bedeutung der eigenen Anstrengung und Verantwortung ist auch in anderen indischen Religionen zu finden, in Teilen des Hinduismus, Buddhismus.

Geeta(6.5) – Hinduismus

Die Seele sollte zu ihren eigenen Fortschritt streben. Die Seele sollte nicht durch Schmerz und Kummer abschweifen, da die Seele ihr eigener Freund und ihr eigener Feind ist.

Buddhismus

Die Seele ist Herrscher der Seele, niemand außer der Seele kann helfen. So wie ein Reiter sein Pferd führt, sollte man seine eigene Seele führen.

Jainismus

Die Seele ist der Erschaffer und Zerstörer von Glück und Kummer. Die Seele ist der eigene Freund oder Feind, je nachdem ob man auf dem richtigen oder falschen Weg ist.

Jeder muss sicher für sich selbst die Gewichtung dieser einzelnen Aspekte finden. Für mich als Psychotherapeutin ist der Aspekt der eigenen Anstrengung besonders wichtig, sonst wäre keine Veränderung in einer Therapie möglich!